„Die meisten von uns sind mit ,Hänschen klein‘ aufgewachsen, tonal determiniert, quasi die Tonalität im Ohr, stehen sie der „neuen Musik“ fremdelnd, schlimmer noch, ablehnend gegenüber…“ das äußerte Karl-Heinz Wahren in einem Interview. Die Fremdheit Vieler der „neuen Musik“ gegenüber, oft gefördert durch den Snobismus einer jeweils herrschenden „Avantgarde“, war für ihn ein Problem. Die abstrakte Intellektualität der Avantgarde der Nachkriegszeit lernte er kennen, ohne sich ihr anzuschließen. Immer wieder beklagte er den Bedeutungsverlust unserer zeitgenössischen ernsten Musik. Sein Bestreben war es mit seiner Musik ein möglichst breites Publikum zu erreichen.

1933 in Bonn geboren, zog die Familie 1936 nach Gera. Sechsjährig erhielt er hier Klavier- und später dazu Kontrabassunterricht. Seine Mutter – eine Cousine des Malers Otto Dix – und sein Vater (ein Gastronom) übernahmen später in Gera eine Gaststätte mit großem Tanzsaal, die „Walhalla“, in der allwöchentlich eine Band mit kleinem Bläsersatz und Rhythmusgruppe zum Tanz aufspielte, das Repertoire in den Nachkriegsjahren war natürlich amerikanische Swingmusik, was den jungen Wahren zu ersten Arrangierversuchen antrieb und seine Liebe zum Jazz begründete. Die Versuche, ein Musikstudium in Weimar oder Leipzig aufzunehmen, scheiterten: Der erste deutsche „Arbeiter- und Bauernstaat“ verweigerte ihm die Aufnahmeprüfungen an beiden Hochschulen aufgrund seiner „bourgeoisen“ Herkunft. Die Konsequenz war die Aufnahme des Musikstudiums am Städtischen Konservatorium in Westberlin und später ein Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik u.a. bei Josef Rufer und privat bei dem befreundeten Karl Amadeus Hartmann, dessen vitale Emotionalität ihm mehr lag als die rationale Strenge Rufers. Wahrens musikalisches Interesse galt dem Jazz, erst während des Studiums wechselte er zur „E-Musik“, die ihn formal und ästhetisch sowie in ihren gestalterischen Dimensionen immer mehr anzog. Allerdings verlor er die Beziehung zum Jazz nie. Nach eigenen Aussagen „vagabundierte“ er hin und wieder zwischen U- und E-Musik.

Erstaunlich professionell sind mehrere jazzaffine Arrangements für die hervorragende RIAS Big Band im damaligen Westberlin. Ein wichtiger Meilenstein in seinem Leben war 1965 die Gründung der „Gruppe Neue Musik“ in Berlin zusammen mit vier anderen gleichgesinnten Kollegen. Ziel der Gruppe war es, die neue Musik dem Zuhörer näher zu bringen, was durch ungewöhnliche Präsentationsformen und eine vitale Musiksprache, die die gelegentliche Hinwendung zu Klängen vergangener Musikepochen sowie die Einbeziehung von Jazzelementen nicht scheute, durchaus gelang. Werke wie „Tango appassionato“ für Streichquartett, „Drums Trip Concertino“ für Drums Quartett, „Auf der Suche nach dem verlorenen Tango“ für Orchester, „Brass Quartett“ u.a. zeugen davon. 1970 erhielt er den Preis des „Rostrum of Composers“ der UNESCO in Paris für seine Kantate „Du sollst nicht töten“, ein Auftrag des Senders RIAS anlässlich der Berliner Jazztage 1969. Unter dem Oberbegriff „Frieden“ bilden die Form des Werkes besonders tragische Momente der deutschen Geschichte, vorgetragen von 2 Sprechern, 3 Jazz Solisten (Altsax, Baritonsax, Posaune), Chor und Orchester. 1976 brachte die Deutsche Oper Berlin Wahrens erstes Musiktheaterwerk, die Oper „Fettklößchen“, nach einer Novelle von Guy de Maupassant sehr erfolgreich heraus. Die satirische Oper „Goldelse“ (Libretto Volker Ludwig) zum 750. Stadtjubiläum Berlins folgte, sowie 1995 die Neufassung der Operette „Die schöne Galathée“, wieder an der Deutschen Oper Berlin.

Besondere Verdienste erwarb sich Karl Heinz Wahren nach der Wiedervereinigung durch die Fusion der beiden Komponistenverbände (Ost und West) zum gemeinsamen Deutschen Komponistenverband DKV, dessen Präsident er bis 2004 war. Mit Toleranz und Verständnis, aber auch scharfsinniger Eloquenz, nahm er die Herausforderungen der Deutschen Wiedervereinigung an und vermittelte zwischen den unterschiedlichen Interessen der Mitglieder. In dieser Zeit lernte ich Karl Heinz Wahren persönlich kennen und brachte – neugierig geworden – sein Stück „Nächtliche Tänze toskanischer Jungfrauen in florentinischen Gärten zur Blütezeit der Inquisition“ mit Big Band und der Streichergruppe des neugegründeten „Deutschen Filmorchester Babelsberg“ im Konzertsaal Neukölln zur erfolgreichen Aufführung. Es war der Beginn einer langjährigen Freundschaft. 1995 schrieben wir gemeinsam für das Filmorchester die Musik zum Stummfilm „Metropolis“ mit Aufführungen u.a. in der Oetker Halle in Bielefeld, der Komischen Oper Berlin, der Alten Oper in Frankfurt / Main, der EXPO 2000 in Hannover, sowie die Musik zur sowjetischen Stummfilmsatire „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“, ebenfalls für das Filmorchester, als Auftrag des „Festival des osteuropäischen Films“ in Cottbus 2003. Ich lernte Karl Heinz Wahren als streitbaren Geist kennen, der mit einem natürlichen Redetalent ausgestattet, eine Diskussion nie mit diplomatischen Floskeln versehen unproduktiv werden ließ und Genregrenzen, so sie nicht gängige Klischees bedienten, gerne hinter sich ließ. Neben seinem Wirken als Komponist setzte sich Wahren erfolgreich und sehr konsequent für die Belange und Interessen seiner Kollegen ein. Mit seinen Erfahrungen vertrat er die Interessen der Kollegen, ehrenamtlich, viele Jahre im Aufsichtsrat und weiteren Gremien der GEMA, wofür diese ihm die Ehrenmitgliedschaft und den Ehrenring verlieh. Der DKV wählte ihn 2004 zu seinem Ehrenpräsidenten und das ihm verliehene Bundesverdienstkreuz 1994 zeigt die Bedeutung seines Wirkens im deutschen Musikleben, wie auch die Ernennung zum Honorarprofessor 2003 in Bayern. Zahlreiche Rundfunkbeiträge, Aufsätze und Essays über zeitgenössische Musik zeigen einen originellen Autor, der auch polarisierende Äußerungen nicht scheute. Wahrens großes Hobby war die deutsche Geschichte. Er erwähnte oft, dass, wäre er nicht Komponist geworden, dann sicher Historiker. Und so war es folgerichtig, dass er für sein letztes Werk, die „Rostocker Jubiläumskantate“ für einen Solisten, Chor und Orchester, anlässlich der 800 Jahrfeier der Hansestadt Rostock, neben der Musik auch den Text schuf. Am 12. November 2018 wurde das Stück im Großen Haus des Volkstheaters Rostock von der Norddeutschen Philharmonie und dem großen Chor des Volkstheaters erfolgreich uraufgeführt. Das Œuvre des Komponisten umfasst drei Opern, 20 Orchesterwerke sowie 70 Kammermusikwerke verschiedenster Gattungen.

Karl Heinz Wahren starb am 14. Dezember 2021 in Berlin.